Die erste Ginsemer Kerb nach dem 2. Weltkrieg 1948

(von Otto Wenke † - aus der „Kerwezeitung 1984“)

Ginsheimer Kerweborsch von 1948

 

Zur Kerb gab es „geschrottelten“ Wein aus Dienheim

Die Not war nach dem verlorenen Kriege groß im Lande. Es gab kaum was zu essen, von neuer Kleidung war gar nicht zu reden. Die Menschen saßen in Ihren Wohnungen dicht an dicht, so eng waren sie in den heilen Häusern zusammengerückt; denn zu den Einheimischen waren Ausgebombte aus Mainz und Heimatvertriebene aus dem deutschen Osten gekommen.

Und dennoch dachten die jungen Leute schon wieder ans Feiern. Weshalb auch nicht, die Leute waren schließlich mit dem Leben davongekommen. Es musste weitergehen, und dazu gehören auch solche Feste wie die Kirchweih, wie die Kerb.

In Nachbargemeinden hatte man schon 1947 wieder begonnen, Kerb zu feiern. In Ginsheim war Georg Fischer, Hauptstraße 33, einer der Kerweburschen, die 1939 kurz vor Ausbruch des Krieges die Kerb aufzogen. Jetzt organi-
sierte er als Initiator die neue Kerb, die nicht sterben sollte und durfte.

Georg Fischer versammelte im Winter 1947/48 einige junge Männer um sich. Sie trafen sich regelmäßig in verschie-
denen Gaststätten und bereiteten die Kerb und besonders den Kerweumzug vor, so gut das damals eben möglich war; schließlich gab es ja nichts, das Geld war kaum was wert, und für eine Mark erhielt man gerade eine Zigarette, wenn man Glück hatte.

Die neuen Kerweburschen waren sich bald einig, wer Kerbevadder, also „Merkel“, werden sollte. Die Burschen entschieden sich für Willi Rauch, Rheinstraße 31, der vor einigen Jahren Zweiter Kommandant der Ginsheimer Frei-
willigen Feuerwehr war.

Die neuen Kerweburschen wussten von Georg Fischer und ihren Vätern, dass zu einer richtigen Kerb auch Kerbewein gehört. Doch Wein wuchs nicht in der Ginsheimer Gemarkung - im Mittelalter wurde hier Wein angebaut - sondern auf den Sonnenhängen der anderen Rheinseite.

Kein Problem, würde man heute sagen. Damals war es jedoch ein ganz großes Problem, denn auf der anderen Rheinseite war die französische Besatzungszone, und in die durfte man nur mit einem besonderen Ausweis, und zum Weinholen gab es den auf gar keinen Fall.

In Ginsheim gab es jedoch damals Männer. die gute Verbindungen nach „drüben“ hatten, die bei Nacht und Nebel mit ihren Nachen über den Rhein fuhren uns Wein „schrottelten“, also gegen Ware eintauschten. Geld wollte keiner, denn es war eben nichts wert. Zwei dieser Nacht- und Nebelfahrer hatte man drüben beim Schrotteln erwischt, sie mussten auf der anderen Rheinseite deshalb ins Kittchen. Also einfach war die Sache nicht.

Dennoch knüpften diese Männer für die Kerweburschen eine Verbindung nach Dienheim bei Oppenheim, wo sich die Kerweburschen jedoch selbst den Wein gegen Ware abholen mussten.

Zuerst musste also „Schrottelware“ besorgt werden. Bei den Kerweburschen gab es einige Bauernbuben, die beschafften Frucht, die der Ittner-Müller zu Mehl mahlte. Das Mehr wurde wasserdicht verpackt, und mit ihm ging es eines Abends im Nachen auf den Rhein. Der Nachen wurde an einen Schleppzug, der „zu Berge [1]“ fuhr.

Im Nachen saßen Kerbevadder Willi Rauch und seine Freunde Werner Kunzmann, Fritz Rauch und Walter Seibel. In der Höhe von Oppenheim hängten sie Ihren Kahn ab und ruderten leise auf die französische Seite.

Fritz Rauch, der Ruderer, fuhr wieder auf die amerikanische Seite und versteckte sich mit dem Nachen im Gebüsch. Die anderen drei gelangten auf Schleichwegen nach Dienheim, konnten dort ihr Mehl gegen Wein eintauschen und machten sich mit rund 150 Liter Rebensaft auf den Rückweg nach Oppenheim.

Dort pfiffen sie Fritz Rauch herüber. Das kostbare Nass wurde verladen, und ab ging es über den Strom auf die heimatliche Seite, wo man sich „zu Tale [2]“ nach Ginsheim treiben lies.

Wie waren doch die vier angehenden Kerweburschen stolz, als sie endlich mit ihrer kostbaren Fracht in Ginsheim waren, wenn sie auch durch die schwere Last – und vielleicht auch wegen der ausgestandenen Angst – nass geschwitzt waren.

Nun konnte Kerb gefeiert werden, denn ein paar Reichsmark hatten sie während der Wintermonate angespart.
Mützen und Schärpen hatten sie von ehemaligen Kerbeburschen geliehen bekommen. So richtig zusammengestoppelt war die Kerbeburschenkluft; aber was macht das schon, es sollte doch wieder Kerb gefeiert werden.

Dann kam der 20. Juni 1948 – und mit ihm die Währungsreform. Jetzt war zwar das angesparte Geld futsch, doch
das konnte der Begeisterung keinen Abbruch tun. Am letzten Sonntag im August 1948 zogen die Kerbeburschen
nach alter Tradition und guter Väter Sitte zum ersten Male nach dem Krieg die Kerb auf; hoch zu Ross, auf dem Kerbewagen und vornweg Fahnenschwinger, Mundschenk [3] und eine Musikkapelle.

Am Tage zuvor hatten die Kerbeburschen unter der Anleitung des Feldpolizeimeisters Karl Konrad im Birkenwäldchen drei Birken geschlagen, die, mit bunten Bändern geschmückt, als Kerbebäume vor der alten Turnhalle in der Rhein-
straße, vor dem Gasthaus Meixner in der Neckarstraße (gegenüber der heutigen Metzgerei Georg Hauf) und vor der Gastwirtschaft Peter Schäfer in der Hauptstraße (heutiges Hotel Rheinischer Hof) aufgestellt wurden.

Jede Kerbegesellschaft braucht und brauchte einen Namen. Die Kerbeburschen des Jahrgangs 1948 nannten sich „Ohne Geld“. Symbolisch hatten sie ihren Wagen mit Inflationsgeld dekoriert und sich altes Geld an die Mützen gesteckt.

Am Kerbesonntag starteten sie um 14:00 Uhr von der Gaststätte Dauborn „Zur deutschen Eiche“ in der Frankfurter Straße 7 (zu dieser Gaststätte gehörte auch ein Kino). An elf Gaststätten wurde beim Kerbeumzug Halt gemacht, und Willi Rauch, der „Merkel“, entbot als Kerbevadder den Wirten, deren Familien, Gästen und allen Ginsheimern den Kerbespruch, den, wie viele Kerbesprüche, der verstorbene Ginsheimer Komponist und Heimatdichter G. Dauborn geschrieben hatte.

An Georg Dauborn erinnert heute die schöne Anlage vor dem Ginsheimer Rathaus mit dem „Georg-Dauborn-Brunnen“, auf dem eine Bronzetafel mit den Anfangsnoten des von Georg Dauborn komponierten und getexteten „Ginsheimer Liedes“ an den großen Sohn Ginsheims erinnert.

Überall bekam der Mundschenk den Bembel mit Wein gefüllt, und als sie im Stammlokal Meixner ankamen, waren die Kerbeburschen in Hochstimmung. Die Musik spielte beim Umzug umsonst, weil sie an drei Tagen, nämlich auch zur Nachkerb, im Saale Meixner aufspielen durfte.

Beim Umzug war ganz Ginsheim auf den Beinen und abends halb Ginsheim beim Kerbetanz im Saale Meixner. Das Karussell stand auf dem Plätzchen vor der Schule, dem heutigen Rathaus, also genau dort, wo jetzt die „Georg-Dauborn-Anlage“ ist. Die Buden und Glücksstände waren in der Hauptstraße aufgebaut.

Ginsheim feierte nach schweren Jahren wieder Kerb!


  1. zu Berge: gegen den Strom
  2. zu Tale: mit dem Strom
  3. Mundschenk: er war für die Getränke verantwortlich, stets mit weißer Schürze und gefülltem Weinkrug